Meine Hand zitterte. Nein, nein, sei ruhig, sei jetzt ruhig! Ich umklammerte den Griff der Trage fester. “Wir werden wohl eines der Beatmungsgeräte brauchen”, neben mir ging eine Ärztin mit Klemmbrett. Der Mann, den wir trugen, hustete keuchend. “Name?” Der Notarzthelfer auf der anderen Seite der Trage fing an die persönlichen Informationen des Patienten herunterzuleiern, die Ärztin kritzelte eifrig mit. Eine Krankenschwester lief vorbei. “Zimmer 4 ist frei, heute Morgen ist es passiert”, wie in weiter Ferne strichen die Worte an mir vorbei. Zimmer 4, … die zwanzigjährige Mutter. Sie war so jung …! Nein, nein, nein, nicht rührselig werden. “Kim, kannst du schon mal das Bett herrichten und Renate sagen, sie soll eines der Beatmungsgeräte bereitstellen?”, die Ärztin riss mich damit aus meinen Gedanken. “Ja, klar!”, antwortete ich, überließ einem anderen Pfleger meine Aufgabe, die Trage zu tragen und flitze in Richtung Personalbereich. Heute war mein dritter Tag auf der Intensivstation, zuvor hatte ich auf einer Kinderstation, die zwei Stockwerke tiefer lag, gearbeitet. Es war schön, den Kindern, die teilweise lange in der Klinik bleiben mussten, eine Freude zu machen. Doch als die Situation in der Intensivstation kritischer wurde, wurden ein paar Pfleger hierhin verlegt, darunter auch ich. Ich fand Renate in der provisorischen Kaffeeküche. An ein Fenster gelehnt stand sie da, einen großen Kaffeebecher umklammernd. Für einen kurzen Moment dachte ich, eine Träne in ihrem Augenwinkel aufblitzen zu sehen, doch als ich mich mit einem Räuspern bemerkbar machte, lächelte sie bei meinem Anblick. Vielleicht etwas traurig, dachte ich. “Wir brauchen ein Beatmungsgerät in Zimmer 4, Anordnung der Chefin.” Sie nickte, stellte ihren Becher ab und ging schnell an mir vorbei in den Gang, hinüber zum Technikraum. Mit frischer Bettwäsche auf dem Arm machte ich mich auf in Richtung Zimmer 4, ein – verglichen mit den anderen – schöner Raum mit Blick auf einen großen Park, der hinter der Klinik liegt. Als ich eintrat, stockte ich. Fast hatte ich erwartet, ein vertrautes, rundes Gesicht in den Kissenbergen zu sehen, lächelnd und mich erwartend, trotz der vielen Geräte, mit denen sie verkabelt war. Doch nun traf mich die kalte Wahrheit. Dieses Gesicht würde niemanden mehr ansehen, so lebendig und jugendlich. Die junge Frau, die in diesem Zimmer gelegen hatte, war nicht mehr da. ‘Zimmer 4 ist frei, heute Morgen ist es passiert’…. Die Wäsche glitt mir aus meinen erschlaffenden Armen und fiel mit einem dumpfen Seufzen auf den Boden. Sie war gestorben. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Wie jedes Mal hatte ich sie gestern Abend nach der letzten Kontrolle in meiner Schicht allein gelassen, ein anderer Pfleger hatte ihre Aufsicht übernommen. Nichts ahnend war ich nach Hause gefahren, erschöpft wie immer. Gestern war sie noch so lebendig gewesen, so fröhlich. Mir wurde übel. Etwas stieg in meiner Kehle nach oben, ein reißender, tosender Fluss, der mich zu erdrücken, mitzureißen drohte. Sie war tot. Die Ärztin drängte hinter mir in den Raum und löste meine Starre. Schnell eilte ich wieder los, holte neue Bettwäsche und bezog das Krankenbett neu. Der Patient, der zuvor eingeliefert worden war, wurde sofort von mehreren Pflegern hereingetragen. Die Chefärztin wies mich an, auf die linke Seite des Bettes zu gehen und mit zwei anderen mitzuhelfen, den Patienten in eine stabile Bauchlage zu bringen. Dann wurde er mit dem Beatmungsgerät verbunden und mit dem Auftrag nach den mir zugewiesenen Patienten zu sehen, lief ich aus dem Zimmer. Drei Tage später wurde ich zu ebendiesem Patienten gerufen. Die Station war überfüllt, völlig am Limit. Es gab keine freien Betten mehr, sogar normale Stationen waren umgebaut worden. Ich sollte helfen, dem Mann das Beatmungsgerät abzunehmen. Es hieß, es werde für einen jüngeren Patienten gebraucht, der mehrere Kinder habe. Der Mann war alt, hatte keine Familie. Die Ärzte hatten entschieden, der junge Mann sei wichtiger, jemand brauche ihn noch. Also ging ich in das Zimmer. Mehrere Pfleger standen um das Bett, bereit, den Mann wieder auf den Rücken zu drehen und ihm das Beatmungsgerät abzunehmen. Niemand sonst war da, keine Familie, keine Freunde. Benommen trat ich an das Bett, im Ganzkörperanzug. Ich konnte nicht erkennen, wer um mich herumstand, jedes Gesicht war von einer Maske und einer Schutzbrille bedeckt. Den Mann wieder herumzudrehen war anstrengend, Schweiß lief mir über die Stirn und meine Arme schmerzten. Als er auf dem Rücken lag, rührte sich einen Moment niemand. Dann schaltete die Ärztin mit ihrer zitternden Hand langsam und wie in Zeitlupe den roten Knopf des Beatmungsgerätes aus. Der Pfleger neben mir nahm vorsichtig die Maske des Beatmungsgeräts vom Gesicht des Patienten. Mir wurde schwindelig. Ich blickte in die grauen Augen des Mannes, sie waren weit aufgerissen, voller Angst. Er wollte nicht sterben. Ich sah weg, sah nicht hin, als die Augen starr wurden, sah nicht hin, als die Herumstehenden das Kreuzzeichen machten, sah nicht hin, als der Mann starb. Doch die Herzfrequenz auf dem Monitor machte piep – piep – piep – – piep – – – piep – – – – – – – –
Ich hatte den Blick immer noch abgewandt, als Renate mit einem schwarzen Leichensack hereinkam. Stumm wurde der Mann eingepackt, aber ich sah trotzdem nicht hin oder half mit. So wie er gekommen war, wurde er wieder auf eine Trage gelegt und langsam aus dem Raum hinaus und in den einsamen Gang getragen. Ich ging wie in Trance hinterher, Renate neben mir, die aufgerissenen, grauen Augen schwammen immer noch durch mein Blickfeld. Und ich hatte nicht hingesehen. Durch irgendeine Tür in einen Raum, der kühl war wie der Winter, wie der Wind, wie der Tod. Ich spürte wieder den reißenden Wasserstrom in meiner Kehle aufsteigen. Ich spürte, wie die Wellen tosten, wie sie mich zu ertränken suchte, mich niederzuschmettern und mich untergehen zu lassen. Die schluchzenden Wellen stiegen in meine Augen und die Kälte ließ mich zittern. Durch einen verschwommenen Raum, eine leere Treppe hinunter und auf einen Innenhof mit einem großen, schwarzen Auto. Davor wartend, schwarz gekleidete Männer, die ihn von der Trage hoben und in einem Sarg verschwinden ließen.
Ich winkte.